Streunende Hunde bedrohen den vom Aussterben bedrohten Balkanluchs. Unsere Partner in Nordmazedonien arbeiten mit einer wirkungsvollen und dennoch tierwohlgerechten Maßnahme eng mit Tierärzten zusammen, um dieses weitestgehend unbekannte Naturschutzproblem zu lösen.
Sieht harmlos aus, kann aber zu einem ökologischen Problemfall werden: ein Straßenhund in Nordmazedonien
Müsste man Nordmazedonien mit einem Geräusch beschreiben, wäre es vermutlich Hundegebell. Egal ob auf belebten Plätzen in Skopje, der Hauptstadt des Landes, oder in abgelegenen Dörfern: Hunden begegnet man in Nordmazedonien nahezu überall; bei vielen handelt es sich um mehr oder weniger verwilderte Straßenhunde. Seit einigen Jahren ist unter Biologinnen und Artenschützern bekannt, dass diese Omnipräsenz von Hunden für den Naturschutz ein ernsthaftes Problem ist.
In den Städten des Landes ernähren sich die Hunde vor allem von Abfällen, die im urbanen Raum in großer Menge anfallen. In ländlichen Regionen reicht dieses Nahrungsangebot jedoch nicht aus. Hier ziehen die Streuner in die nahen Wälder und ergänzen ihren Speiseplan durch Wild.
Kamerafallenbilder wie diese beweisen, dass die Streuner auch in die Wälder ziehen.
Verwilderte Hunde in Nordmazedonien fressen an einem Kadaver. Vielleicht haben sie das Tier selbst erbeutet; gut möglich aber auch, dass es sich um den Riss eines Luchses handelt.
An dieser Stelle beginnt die Bedrohung für den Balkanluchs. „Wir sind jahrelang davon ausgegangen, dass Wilderei und die Zerstörung seines Lebensraums die größte Bedrohung für den Balkanluchs darstellen“, sagt Dime Melovski, Biologe bei unserer nordmazedonischen Partnerorganisation MES. „Dann haben wir festgestellt, dass eine weitere Bedrohung dazu gekommen ist, die wir so nicht auf dem Radar hatten: Auf immer mehr Kamerafallenfotos haben wir streunende Hunde gesehen, die von Rehkadavern und anderem Wild fressen.“
Die Streuner sind für den Balkanluchs eine Nahrungskonkurrenz im doppelten Sinne. Zum einen erbeuten die verwilderten Hunde auf ihren Streifzügen durch die Wälder selbst Rehe und Hasen. In Nordmazedonien, das im Gegensatz zu Deutschland eine deutlich geringere Wilddichte hat, bedeutet jedes von Hunden gerissene Wildtier potentiell weniger Beute für Luchse.
Zum anderen machen sich die Streuner über die von Luchsen gerissenen Rehkadaver her. „Der Balkanluchs vertilgt ein erbeutetes Reh nicht sofort gänzlich; er kehrt über mehrere Tage lang immer wieder an den Kadaver zurück, um daran weiterzufressen“, erklärt Lisa Leschinski, Projektleiterin bei EuroNatur. „Die streunenden Hunde mit ihren guten Nasen wittern das Aas und fressen den Balkanluchsen ihre Vorräte weg. Dies ist fatal, denn damit wird der Jagderfolg der Luchse zunichte gemacht“, sagt Lisa Leschinski. „Bei einer stabilen Population der Balkanluchse wäre das vielleicht zu verkraften, aber davon sind wir weit entfernt“, so die Biologin. Durch die Wälder des südwestlichen Balkans streifen vermutlich weniger als 50 Exemplare der vom Aussterben bedrohten Unterart des Eurasischen Luchses.
„Sie sind wie Wölfe“
Dime Melovski dienen nicht nur die Fotofallenbilder als Beweis für die massive Nahrungskonkurrenz durch die Streuner. Er hat selbst einmal beobachtet, wie ein verwilderter Hund ein Reh gerissen hat. „Meine Kollegen und ich konnten nicht eingreifen. Der Jagdinstinkt des Tieres war einfach zu stark“, sagt Melovski.
Die Streuner machen aktiv Jagd aufs Wild. Manchmal bilden die Hunde sogar Rudel und verhalten sich wie Wölfe. Die schlummernden Gene ihrer Vorfahren kehren dann zurück.
Dime Melovski, Biologe MES
Die streunenden Hunde stellen nicht nur eine Gefahr für die Wildbestände dar und sind eine Nahrungskonkurrenz für den Balkanluchs, sie können auch Vieh reißen und unter Umständen sogar Menschen gefährlich werden. Jedes Jahr werden in Nordmazedonien Hunderte von Fällen gemeldet, in denen Menschen von Hunden gebissen wurden; vereinzelt wurden sogar Kindern von streunenden Hunden getötet. Es besteht also dringender Handlungsbedarf, doch viele Nordmazedonier sind sich des Problems gar nicht bewusst. Zwar ist die Streuner-Problematik vor allem in den Städten des Landes durchaus bekannt, doch in den ländlichen Regionen Nordmazedoniens sind die Menschen eher daran gewöhnt, dass es verwilderte Hunde gibt, und fühlen sich davon nicht so gestört. Deshalb arbeitet MES seit Bekanntwerden der Gefährdungslage für den Balkanluchs durch Streuner daran, die Öffentlichkeit aufzuklären. Vor zwei Jahren veröffentlichten unsere Partner eine Dokumentation, in der dargelegt wird, wie streunende Hunde in ländlichen Gebieten Wildtieren und Menschen schaden können.
Ein Tierarzt erklärt Dime Melovski (rechts im Bild) von unserer Partnerorganisation MES die Funktionsweise der Sendehalsbänder. In diesem Fall konnte die Besenderung zumindest zweier wieder freigelassener Hunde finanziert werden. Sie werden wichtige Daten liefern, in welchem Radius sich die Tiere bewegen.
Um das Streunerproblem langfristig in den Griff zu kriegen, sind die Luchsschützer in Nordmazedonien dazu übergegangen, die verwilderten Hunde einzufangen und zu kastrieren. Dabei arbeiten unsere Partner eng mit Tierärztinnen und Veterinärmedizinern zusammen.
Lisa Leschinski war im vergangenen Jahr bei einer solchen Aktion dabei und schildert die Situation: „Als ich im Ort ankam, war jede Menge los: Mehrere Hunde, die zur Untersuchung und Kastration beim Tierarzt waren, wurden wieder freigelassen – zurück an den Ort, an dem sie eingefangen wurden. Gleichzeitig wurden zwei weitere Tiere gefangen. Das Ziel: Möglichst alle Hunde eines Gebiets zu kastrieren. Die Tiere ließen sich leicht einfangen, sie sind noch eng an Menschen gewöhnt.“
„Idealerweise sollten die wieder ausgesetzten Hunde auch einen Mikrochip bekommen, damit wir einen Überblick über die bereits kastrierten Exemplare bekommen“, sagt Dime Melovski. „Zudem sollte der Staat mehr Mittel für Tierheime aufwenden, damit die Hundebesitzer ihre Tiere dort abgeben können, anstatt sie einfach auszusetzen, wenn sie keine Lust mehr auf ihre Haustiere haben. Doch davon sind wir im Moment weit entfernt. Schon allein für die Kastration der Streuner gibt es keinerlei staatliche Zuwendungen“, kritisiert Dime Melovski.
Durch die Wälder Nordmazedoniens, Albaniens und des Kosovos streifen vermutlich weniger als 50 Exemplare des Balkanluchses.
Ist es da nicht einfacher und deutlich günstiger, die Streuner zu töten? „Auf den ersten Blick mag es so erscheinen“, sagt Dime, „aber das wäre herzlos. Es handelt sich um Tiere, die eine bessere Behandlung verdienen. Zudem wäre der Aufschrei in der Öffentlichkeit wahrscheinlich sehr groß, wenn wir die Hunde töten würden.“
Das hat auch EuroNatur-Projektleiterin Lisa Leschinski vor Ort festgestellt: „Ein Restaurantbesitzer, bei dem die Streuner regelmäßig die Küchenabfälle bekommen, hat sich empört, dass wir die Hunde einfach mitnehmen. Wir konnten den Mann erst beruhigen, als wir ihm geschildert haben, dass die Tiere nicht eingeschläfert, sondern nur kastriert und danach wieder ausgesetzt würden.“
Freilassung kastrierter Streuner
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Kurzfristig ist das Problem der Streuner als Nahrungskonkurrenten für den Balkanluchs damit nicht gelöst. Auch kastriert werden die verwilderten Hunde weiterhin Jagd auf Rehe und andere potentielle Beutetiere machen und den Luchsen die Kadaver wegfressen. Doch da sich die Hunde nun nicht mehr fortpflanzen können, wird sich das Problem langfristig lösen – sofern die Maßnahmen flächendeckend im ganzen Land durchgeführt werden. „Gemäß einer Berechnung nimmt die Streunerpopulation einer Region ab, wenn 70-75 Prozent der Hunde kastriert werden“, sagt Dime Melovski. Der Anfang hierzu ist gemacht, doch auf unsere Partner im Luchsschutz kommt in den nächsten Jahren noch viel Arbeit zu.