Vogelzählung mit Trend nach unten

Wenn Sie Mitte Januar irgendwo in Europa am Ufer eines Gewässers wandern, stehen die Chancen hoch, dass Sie Ornithologinnen und Vogelkundlern begegnen. Traditionell werden zu dieser kältesten Zeit des Jahres europaweit die Wasservögel gezählt. EuroNatur-Mitarbeiterin Justine Vansynghel hat unsere albanischen Partner bei der Mittwinterzählung 2025 begleitet.

Autos von Vogelzählern bei Sonnenaufgang

Der frühe Vogel...Die Mittwinterzählung beginnt bereits bei Sonnenaufgang.

© Justine Vansynghel

Samstagmorgen, 5 Uhr in Tirana. Es ist noch stockdunkel, als EuroNatur-Zugvogelprojektleiterin Dr. Justine Vansynghel von der albanischen Hauptstadt Tirana gen Süden Richtung Narta-Lagune aufbricht. Nach rund zwei Stunden erreicht sie ihr Ziel. Am östlichen Eingang zur Lagune stehen bereits weitere Fahrzeuge. Es hat etwas von einem konspirativen Treffen; so früh in der Dämmerung an diesem abgelegenen Ort könnte man kriminelle Machenschaften vermuten. Doch als die Autoinsassen aus ihren Fahrzeugen steigen – lediglich „bewaffnet“ mit Spektiven, Ferngläsern und Kameras – wird schnell klar, wer hier zu welchem Zweck zusammengekommen ist.

Justine ist unterwegs mit haupt- und ehrenamtlichen Vogelzählern unserer albanischen Partnerorganisation PPNEA. Die alljährliche Mittwinterzählung steht an. Dabei werden in ganz Albanien an einem Wochenende Mitte Januar die Wasservögel des Landes erfasst. Die Zahl an rastenden Gänsen, Enten und Limikolen sollte Mitte Januar, zum eigentlich kältesten Zeitpunkt des Jahres, am höchsten sein. Da die Mittwinterzählung eine lange Tradition hat, lassen sich so verlässliche Zahlen über die Bestände und Entwicklungstrends nachvollziehen.

Geballte Erfahrung und jugendliche Begeisterung 

Dr. Justine Vansynghel ist an diesem Samstagmorgen mit drei weiteren Ornithologinnen und Vogelexperten unterwegs. Mirjan Topi, ehemaliger Mitarbeiter von PPNEA und heute Reiseführer bei Birding Albania, nimmt bereits seit mehr als zehn Jahren an der Vogelzählung an Albaniens Gewässern teil. „Seit 2014 habe ich keine einzige Mittwinterzählung verpasst. Es ist wichtig, dass wir verlässliche Daten gewinnen, aber vor allem macht es mir einen Riesenspaß“, sagt Mirjan und grinst dabei.

Draußen in der Natur kann ich abschalten. Und, vielleicht noch wichtiger: Man zählt Vögel mit anderen Gleichgesinnten. Das ist bereichernd und es verbindet!

Mirjan Topi
Freiwillige Vogelzähler in Albanien

Ein gutes Team: Mirjan Topi, Reinhard Haxhiraj, Tea Zeqai und EuroNatur-Projektleiterin Dr. Justine Vansynghel

© Evladimir Haxhiraj

2014 konnte der Jüngste im Team noch nicht einmal laufen, geschweige denn ein Fernglas halten. Für Reinhard Haxhiraj ist das frühe Aufstehen nicht unbedingt das Tollste, aber er sprüht vor Begeisterung. Reinhard ist 12 Jahre alt, wohnt im nahe gelegenen Vlora und interessiert sich seit seinem sechsten Lebensjahr für die Vogelwelt der Narta-Lagune. „Ich habe es sogar geschafft, meiner Mutter einige Vogelarten beizubringen“, erzählt er stolz. Reinhards Eltern unterstützen das Hobby ihres Sohnes, begleiten ihn oft auf seine vogelkundlichen Ausflüge.

Die vierte im Bunde ist Tea Zeqaj, eine der vielen freiwilligen Vogelzählerinnen von PPNEA. Sie hat Wirtschaftswissenschaften studiert und ist durch die Vogelbeobachtung gemeinsam mit Mirjan Topi zur Naturschützerin geworden. Auf die Frage, weshalb sie am frühen Samstagmorgen aufsteht, um Vögel zu zählen, antwortet Tea: „Vögel sind für mich der sichtbarste Nachweis, dass wir unseren Planeten mit anderen Geschöpfen teilen. Ich möchte meinen Beitrag dazu leisten, sie zu schützen.“

fliegender Krauskopfpelikan

Riesig und bedroht: Ein Krauskopfpelikan, der über die Zählenden hinwegfliegt.

© Klajdi Duro

Flughafen statt Flamingos?

Schutz haben Albaniens Vögel bitter nötig. Die Gefahren für die gefiederten Weltenbummler sind vielgestaltig und Justine und die anderen im Team erleben sie an diesem Morgen hautnah. Da ist zunächst einmal der Bau des Vlora-Flughafens. Um den Tourismus in Südalbanien weiter anzukurbeln, lässt die albanische Regierung im vogelreichen Schutzgebiet Vjosa-Narta einen Flughafen errichten. Dafür wurden im Rahmen einer sehr umstrittenen, möglicherweise sogar rechtswidrigen Gesetzesänderung extra neue Grenzen gezogen, so dass das Baugebiet nun außerhalb der geschützten Zone liegt. Zudem lässt sich die Umweltverträglichkeitsprüfung für das naturzerstörerische Projekt nur als Farce bezeichnen. Der Lebensraum der Vögel wird durch die fortschreitenden Bauarbeiten zerstört und sollte der Flughafen erst einmal in Betrieb gegangen sein, sieht es für Flamingos und Co. düster aus. Zum jetzigen Zeitpunkt stellen die salzigen, flachen und nahrungsreichen Tümpel der Lagune allerdings noch einen stark frequentierten Rastplatz für etliche Vögel dar.

Dem Team rund um Mirjan Topi wurde – zum dritten Mal in Folge – der Zutritt zur Baustelle verwehrt, obwohl das Gebiet einen der traditionellen Zählpunkte darstellt. „Dieses Vorgehen ist perfide. Es untergräbt die Möglichkeit, das Ausmaß des Risikos, das der Flughafen für die Vogelwelt darstellt, zu untersuchen und mit Zahlen zu belegen“, ärgert sich Mirjan Topi. Die Ornithologinnen und Vogelschützer suchen sich daraufhin einen Platz abseits des abgeriegelten Baustellengeländes und zählen so gut es geht von dort aus. Nicht zu übersehen ist ein mehrere Hundert Tiere zählender Schwarm Rosaflamingos.

Rosaflamingos in der Nartalagune vor Baustellenhintergrund

Zwei Schwärme von Rosaflamingos, im Hintergrund der im Bau befindliche Tower des geplanten Flughafens. Der Flughafenbau in unmittelbarer Nähe der Narta-Lagune ist nicht nur eine Katastrophe für die Vogelwelt des Gebiets, sondern auch hinsichtlich der Flugsicherheit bedenklich.

© Zydjon Vorpsi/ PPNEA

„Es war ein sehr ambivalenter Anblick“, schildert Justine die Situation. „Zum einen haben wir uns wahnsinnig über den großen Schwarm dieser ästhetischen Vögel gefreut, die im seichten Wasser der Lagune standen. Doch der im Hintergrund aufragende Tower des Flughafens mit dem großen Baukran daneben hat uns vor Augen geführt, wie es hier bald aussehen könnte. Wir wurden alle sehr nachdenklich“, so die EuroNatur-Projektleiterin. 

Gemeinsam streiten EuroNatur und PPNEA gegen den Bau des Vlora-Flughafens, doch die Arbeiten schreiten ungemindert voran, trotz noch ausstehender Gerichtsurteile. „Einen persönlichen Eindruck von der Baustelle zu gewinnen, hat mir wieder einmal gezeigt, wie widersinnig das Projekt ist. Nicht nur aus ökologischer Sicht, sondern auch in Bezug auf die Flugsicherheit. Ich möchte gar nicht an die Konsequenzen denken, wenn so ein Schwarm großer Vögel mit einem der Flugzeuge kollidiert“, sagt Dr. Justine Vansynghel.

Umweltverschmutzung und illegale Jagdhütte in Feuchtgebiet

Planken, vermutlich von Vogeljägern gebaut, führen ins Feuchtgebiet. An dessen Rand: illegal abgeladener Bauschutt

© Justine Vansynghel
Albanischer Vogelschützer zeigt Patronenhülse

Erald Xeka von AOS hat eine abgefeuerte Patronenhülse entdeckt.

© Justine Vansynghel

Schüsse beim Zählen

Der Flughafenbau stellt jedoch nicht die einzige Gefahr für die Vögel in der Narta-Lagune dar. Auch die illegale Jagd bedroht Albaniens Vogelwelt. Als die Zählenden nach getaner Arbeit wieder zusammenkommen, berichtet eines der Teams, dass während der Zählung immer wieder Schüsse gefallen seien. Sie hätten daraufhin die Polizei gerufen. Auf Nachfrage bei den Beamten hieß es, dass auf Füchse und Schakale, nicht auf Vögel geschossen worden sei. Die Jagd auf die kleinen Beutegreifer gilt in Albanien als Bagatelle, ist aber dennoch eine Straftat. Seit 2014 herrscht nämlich ein Jagdbann im gesamten Land, der jedoch immer wieder missachtet wird.

Bereits am Tag vor der Mittwinterzählung war Justine Vansynghel mit unseren albanischen Partnern von AOS unterwegs. Sie besuchten unter anderem den Thana-Stausee und die Terbufi-Ebene, zwei Hotspots der Wilderei in Albanien. Geschossen wird hier vor allem aus illegal errichteten Hütten auf Wasservögel, aber auch Klangattrappen sind gesetzeswidrig im Einsatz, um durchziehende Wachteln anzulocken. Justine begleitet Erald Xeka und Klajdi Duro von AOS bei ihrer regelmäßigen Routinebegehung der beiden Gebiete.

Die drei erleben großartige Vogelbeobachtungen – unter anderem einen großen Trupp der seltenen Zwergtrappen – finden aber auch etliche Patronenhülsen, viele davon frisch. Die Jagd kann demnach nicht lange zurückliegen. Kurz darauf hören die Vogelschützerinnen und Ornithologen auch Schüsse. Justine schreckt hoch, Erald und Klajdi nehmen das Geräusch beinahe stoisch hin – die beiden sind solche Ereignisse leider gewohnt. Nur wenig später entdecken sie beim Blick durch ihre Spektive Wilderer mit Beute in den Händen. Erald informiert die verantwortliche Behörde, mehr können die Naturschützer in diesem Moment nicht tun.

Die Vogelwelt Albaniens steht vor zahlreichen Herausforderungen und manchmal fällt es mir schwer, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Was mir allerdings Hoffnung macht, ist die wachsende Anzahl von Freiwilligen, die unsere Bemühungen unterstützen. Das zeigt, dass der Vogelschutz in der albanischen Gesellschaft an Bedeutung gewinnt, was den Vögeln bald konkret zugutekommen könnte.

Erald Xeka in Anglerstiefeln. Er trägt ein Stativ über der Schulter.
Erald Xeka, AOS
Freiwillige zählen in Albanien Wasservögel

Schals und Kapuzen sind längst abgelegt an diesem ungewöhnlich milden Januartag.

© Justine Vansynghel
Spießentenerpel

Erfreut wohl das Herz jedes Ornithologen: die Spießente

© deposit

Klimawandel verändert Zugwege

Zurück zur Mittwinterzählung: Die Temperaturen an diesem Samstagmittag sind auf frühsommerliche 19 Grad gestiegen, das ist auch für albanische Winter ungewöhnlich warm. Das Zählteam rund um Mirjan Topi wirft die Winterjacken ins Auto und notiert die Anzahl der Vogelarten und der Individuen. Die Ornithologinnen beobachten unter anderem Stelzen- und Alpenstrandläufer, See-, Gold- und Kiebitzregenpfeifer, Bekassinen und verschiedene Entenarten. Ein vermeintlich am Gewässerrand sitzender Kormoran wird vom jüngsten in der Gruppe, von Reinhard Haxhiraj, souverän als Zwergscharbe bestimmt. 

Die Sichtung einer Spießente sorgt bei Mirjan Topi für große Freude, nicht nur wegen der Ästhetik des eleganten Entenvogels mit dem langen namensgebenden Schwanzspieß. Mirjan erinnert sich, dass Spießenten noch vor wenigen Jahren ein regelmäßiger Anblick in Albanien gewesen seien, doch mittlerweile sei so eine Sichtung eine kleine Sensation. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Spielt die illegale Jagd eine Rolle? Wirkt sich die Verschlechterung der Gewässerqualität, auch aufgrund von Missmanagement der Gebiete, negativ auf die Bestände aus? Oder machen sich die Folgen des Klimanotstands bemerkbar? Aufgrund der klimatischen Veränderungen ziehen viele nordische Vögel erst spät los, beziehungsweise machen sich gar nicht mehr auf den weiten Weg Richtung Adria. 

Eindeutiges Indiz für den menschengemachten Klimawandel sind die Beobachtungen von Kranichen, Schwarzstörchen und Fischadlern; Arten, die den Winter für gewöhnlich in Afrika, nicht in Albanien verbringen. „Die anhaltend milden Winter der vergangenen Jahre beeinflussen sehr wahrscheinlich das Muster des Vogelzugs“, sagt Erald Xeka. „Solange die Gewässer nicht zufrieren, ist ausreichend Nahrung für die Vögel vorhanden, so dass die Vögel eher im Norden bleiben, als nach Südeuropa zu ziehen. Kurz- und Mittelstreckenzieher haben so gegenüber den Vögeln, die nach wie vor bis nach Afrika ziehen, einen klaren Fitnessvorteil. Bei der Rückkehr in die Brutgebiete können sie sich die besten Reviere sichern.“ 

Zum Schluss der Mittwinterzählung zeigt sich noch ein schillerndes Juwel: Ein Eisvogel, der auf einem Schilfhalm nach kleinen Fischen späht, schlägt das ganze Zählteam in seinen Bann. Alle richten ihre Optik auf den kleinen Vogel, schwelgen im Moment und sind begeistert; ganz gleich ob mit sechs oder mit 30 Jahren Beobachtungserfahrung.

  • Wasservogelzählung in Albanien

    Albanische Vogelschützer bei der Vogelzählung

    Eins, Zwei, 27, 185...Vogelschwärme zu zählen, ist nicht immer einfach, aber mit etwas Routine ist es gut zu schaffen - und es macht Spaß!

    © Justine Vansynghel

    Der IWC (International Waterbird Census) organisiert nahezu weltweit Vogelzählungen, um die globalen Vogelbestände erfassen zu können. Seit 1994 zählen auch in Albanien haupt- und ehrenamtliche Ornithologinnen und Vogelschützer im Rahmen des IWC jedes Jahr Mitte Januar die Wat- und Wasservögel des Landes. Unsere Partnerorganisation AOS koordiniert die landesweite Mittwinterzählung und wird dabei unterstützt von Behörden und weiteren Naturschutzorganisationen wie PPNEA.

    Im Januar dieses Jahres zählten die mehr als 60 Vogelkundler 112.516 Individuen, aufgeschlüsselt auf 61 verschiedene Vogelarten. Der Trend zeigt trotz der Schutzbemühungen unserer Partner leider nach unten. Die Gründe hierfür sind vielfältig und variieren von Art zu Art: Verschlechterung des Lebensraums, Jagddruck, verändertes Zugverhalten. Allerdings stehen noch viele Fragezeichen hinter den Ursachen des Negativtrends; auch deshalb sind verlässliche Daten über einen langen Zeitraum so bedeutend.

Ornithologe zählt Vögel mit Spektiv
© Cornelia Mähr

Der Autor dieses Textes hat ebenfalls bei der Mittwinterzählung teilgenommen, allerdings 1.700 Kilometer weiter nordwestlich. Gemeinsam mit mehreren Kolleginnen von EuroNatur und Freiwilligen des NABU hat Christian Stielow eine Strecke am Bodensee gezählt. Dort waren die Temperaturen tatsächlich winterlich an diesem Tag…

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