Gibt es in Europa noch unberührte Natur? Ein junges Filmteam macht sich auf den Weg zu den Naturschätzen unseres Kontinents. Schnell merken sie, dass Wildnis viel mehr ist als ein Punkt auf der Landkarte. Doch die letzten unberührten Landstriche sind durch illegalen Holzhandel, Wilderei und Zerstörung bedroht.
Sarah Ziegler, Simon Straetker und Joshi Nichell eint ihre große Liebe zur Natur und eine ungebrochene Leidenschaft, zu deren Erhalt beizutragen. „Indem wir Geschichten über wilde Orte teilen, werben wir für Respekt gegenüber unserem bemerkenswerten Planeten und für eine Kultur der Nachhaltigkeit“, sagen sie. Im Interview geben die Drei Einblicke in ihre Reisen zu den letzten Wildnisgebieten Europas und verraten, was sie bei der Produktion ihrer Naturdokumentationen bewegt hat.
Sie haben fünf Jahre lang Europas letzte Wildnisgebiete bereist und dabei viele Menschen kennen gelernt, die sich für den Schutz der Natur einsetzen. Wie hat sich Ihre Perspektive dadurch verändert?
Sarah Ziegler: Ich mache mir schon lange Sorgen um den Zustand der Natur. Unsere Reisen haben mir Hoffnung gegeben, weil sie mir gezeigt haben: Nur weil ich nicht von allen Menschen weiß, die sich für den Naturschutz einsetzen heißt das nicht, dass es sie nicht gibt. Gerade der Besuch bei Fapas in Spanien hat mir Mut gemacht. Roberto Hartasánchez kämpft schon so unglaublich lange für die Braunbären. Auf der anderen Seite hat es mich sehr mitgenommen, die Kahlschläge in Rumänien zu sehen. Diese beiden widersprüchlichen Gefühle gab es. Der Zustand der Natur ist teilweise sehr schlecht und das wollen wir in unseren Filmen nicht schönreden. Was aber auch feststeht ist: Es gibt noch wunderschöne Natur in Europa! Das war mir vorher nicht so bewusst.
Simon Straetker: Am meisten habe ich über die Reisen gelernt, dass man Naturschutz länderübergreifend denken muss. Ich komme aus dem Schwarzwald. Dort haben wir einen der reicheren Nationalparks in Europa. Es werden Infozentren gebaut und es stehen Mittel zum Schutz der Wälder zur Verfügung. Anderenorts könnte man auf unserem Kontinent mit dem gleichen Geld ein Vielfaches bewirken. Ich denke, wir haben eine gesamteuropäische Verantwortung und nicht nur eine nationale – zum Beispiel, wenn es darum geht, die Urwälder in den rumänischen Karpaten vor der Abholzung zu retten.
Wie haben Sie die rumänischen Urwälder erlebt?
Straetker: Sehr beeindruckend. Diese Weitläufigkeit, diese großen Flächen! Du schaust in ein Tal und siehst keine einzige Straße, viele Täler sind komplett weglos. Du merkst schnell, dass die Wildnis dort noch ein anderes Niveau hat. Gleich am ersten Tag habe ich dort zwei Wölfe gesehen. Sie waren nur hundert Meter entfernt. Das war ein riesiges Glück!
Ziegler: Ja, mir ging es genauso. Ich habe noch nie vorher so alte Bäume gesehen. Es war schwierig, Tiere zu filmen, weil sie in diesem dichten Wald einfach verschwunden sind.
War denn das Problem der Abholzung auch präsent?
Ziegler: Leider, ja. Zusammen mit Gabriel Paun von Agent Green waren wir in einem geschützten Gebiet im Făgăraș-Gebirge unterwegs, in dem ein paar Tage zuvor illegal Holz gefällt wurde. Wir haben die abgeholzte Fläche gefilmt. Die Baumstümpfe waren notdürftig mit Zweigen verdeckt und wir haben die illegal angelegten Transportwege dokumentiert. Die metertiefen Wunden im Wald waren ein schockierender Anblick.
Es wurden in der Vergangenheit mehrmals Menschen angegriffen, die illegale Abholzungen dokumentiert haben, auch Gabriel Paun. Wie haben Sie sich bei den Dreharbeiten gefühlt?
Ziegler: Ich habe mich während der Dreharbeiten eigentlich nie unwohl gefühlt, wir waren ja vorsichtig und haben keine Konfrontation gesucht. Aber an diesem Tag war es anders. Ich habe mich gefragt, ob die Holzfäller zurückkommen werden.
Straetker: Natürlich war ein mulmiges Gefühl dabei, weil wir um die Gefahren wussten, wenn wir jemanden auf frischer Tat ertappen. Aber man muss unterscheiden zwischen den Leuten, die die Arbeiten durchführen und den eigentlich Verantwortlichen, die in korrupten, kriminell organisierten Strukturen agieren. Sie sind es, die das Holz illegal weiterverkaufen, in den Handel schleusen und damit das große Geld machen. Die Holzfäller sind meist einfache, arme Leute, die fast ohne jegliche Schutzausrüstung in den Wald gehen und dabei selbst ihr Leben gefährden. Das ist deren Einkommensquelle. Es bringt nichts, die Waldarbeiter zur Rede zu stellen. Man muss das Problem systematisch angehen – so wie Interpol es mit Razzien bereits macht.
Agent Green ist auch sehr engagiert, diese illegalen Machenschaften ans Licht und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen…
Ziegler: Ja, die Agent Green-Leute sind so mutig! Aktivistinnen und Aktivisten in Rumänien sind nochmal ganz anderen Gefahren ausgesetzt als zum Beispiel in Deutschland. Indem sie Missstände aufdecken und ihr Gesicht zeigen machen sie sich automatisch zur Zielscheibe.
Straetker: Wir waren bei unseren Dreharbeiten nicht in den gefährlichsten Gebieten unterwegs. Gabriel Paun hat uns berichtet, dass es zum Beispiel in Maramures, im Norden an der Grenze zur Ukraine, beinahe garantiert ist, angegriffen zu werden. Trotzdem ist Agent Green dort für investigative Recherchen unterwegs.
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Wild Europe - der Verein
Sie liefern über Ihre Filme Einblicke aus den EuroNatur-Projektgebieten, die eine große Tiefe haben. Wie entsteht dieses „Mehr“, das bei Ihren Aufnahmen rüberkommt?
Nichell: Vielleicht ist es dieses „Mehr“ an Leidenschaft. Wir werden nicht dorthin geschickt, sondern wir wollen dorthin, wir wollen diese Geschichten erzählen.
Inwiefern denken Sie, dass Sie mit dem Instrument Film eine Veränderung zum Guten bewirken können?
Straetker: Es gibt einerseits die „Instagram-Welt“, in der Leute versuchen, mit schockierenden Bildern Aufmerksamkeit für die Natur zu erregen. Auf der anderen Seite gibt es die Fachnerds, die auf 80 Seiten erklären, wie sich eine Käferart an veränderte Standortbedingungen anpasst. Naturschutz ist oft super sachlich. Gerade das ist einem Großteil der Bevölkerung schwer vermittelbar. Wir bauen mit unseren Filmen eine Brücke zwischen diesen beiden Extremen: Wir nutzen wissenschaftlich fundierte Grundlagen, bereiten sie aber so auf, dass wir die Zuschauerinnen und Zuschauer emotional abholen. Zum Beispiel ist das Insektensterben ein abstraktes Thema. Mit unserem Film im Nationalpark Gesäuse haben wir es in die Bildwelt geholt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht eine Person, die sich für Insekten begeistert.
Nichell: Genau, die emotionale Brücke entsteht vor allem über die Menschen in den Projektgebieten. Wir geben ihnen in unseren Filmen Raum. Sie entführen in die Schönheit der Welt da draußen, sie laden zum Staunen ein, rütteln aber auch auf. Wir teilen die Begeisterung dieser Personen vor der Kamera und dadurch entstehen wunderschöne Aufnahmen, von denen wir hoffen, dass sie den Funken überspringen lassen.
Unsere Reisen haben mir Hoffnung gegeben: Es gibt so viele tolle Menschen, die sich für den Naturschutz einsetzen.
Sie selbst waren von den Dreharbeiten mit Bärenschützer Roberto Hartasánchez in Nordspanien so beeindruckt, dass Sie im Herbst 2023 vier Wochen lang ein Praktikum bei Fapas gemacht haben. Wie kam es dazu?
Nichell: Bei den Dreharbeiten 2021 waren wir nur ein paar Tage mit Fapas unterwegs. Das hat in mir aber viel bewegt. Ich fand deren Arbeitsweise so einleuchtend. Sie bauen dem Imker einen bärensicheren Zaun und so versteht er, dass er seinen Honig produzieren kann, auch wenn Bären im Gebiet sind. Ich wollte gerne tiefer eintauchen. Meine Hoffnung ist es, dass es auch anderen so geht. Sie sollen sehen, da macht jemand etwas Tolles, wo ich vielleicht mitmachen oder ein ähnliches Projekt starten kann.
Ziegler: Deshalb haben wir auch schon früh angefangen, Vorträge an Schulen zu halten. Wir wollen Perspektiven aufzeigen, wie man mit seinem Leben etwas Sinnvolles anfangen kann. Uns ist es ein Anliegen, Menschen vorzustellen, die für den Schutz der Natur aktiv sind.
Straetker: Für viele Jugendliche, die in Städten wohnen, ist das eine komplett fremde Welt. Wir haben auch schon an der Universität Vorträge gehalten. Danach kamen Studenten zu uns und meinten: Wow, uns war gar nicht bewusst, dass man als Wissenschaftler so einen Job haben kann!
Was braucht es, damit sich die jüngeren Generationen noch mehr für die Natur interessieren?
Nichell: Ich finde es schwer zu sagen, was die junge Generation als solches braucht. Je mehr verschiedene Ansätze es gibt, umso mehr Menschen werden auf irgendeine Art abgeholt. Unsere Protagonistinnen und Protagonisten sind sehr unterschiedlich. Da gibt es die Mutter im Tatra-Gebirge, die ihre Begeisterung weitergibt. Damit kann sich vielleicht eine andere Mutter identifizieren. Die nächste sagt nach dem Film, ich möchte Biologie studieren.
Ziegler: Ich habe das Gefühl, es sind eher die älteren Menschen in den Machtpositionen, die mal einen Arschtritt brauchen!
Kann ich das so schreiben?
Ziegler: Ja, gerne (lacht).
Was ist die Essenz, die Sie verbindet?
Ziegler: Ganz klar die Begeisterung für die Natur.
Nichell: Und die Hoffnung, über unsere Filme die eigene Begeisterung weitergeben zu können.
Was zeichnet EuroNatur aus Ihrer Sicht aus?
Nichell: Dass ihr total tolle Projekte unterstützt! Zum Beispiel die Arbeit von Fapas in Spanien. Es ist so gut, dass es aus Deutschland Unterstützung für diese wirklich kleine, aber sehr einflussreiche Organisation gibt. Vor 40 Jahren gab es im Kantabrischen Gebirge nur noch 30 Braunbären, heute sind es mehr als 350. Das ist eine unheimlich positive Entwicklung. Fast jeder, der mich in der Region per Anhalter mitgenommen hat, kannte Fapas. Roberto Hartasánchez und sein Team haben es geschafft, sich einen Namen zu machen und sie haben die Kraft, etwas vor Ort zu verändern, obwohl sie bis heute eine kleine Organisation mit nur fünf Mitarbeitenden geblieben sind.
Straetker: Ich war auch beeindruckt von den Leuten, die sich in den Projektgebieten engagieren, und das schon über einen sehr langen Zeitraum. Ich frage mich, wo um alles in der Welt nehmen sie die Energie her, jeden Tag aufzustehen und mit dieser Intensität weiterzumachen. Sie haben nur Probleme, Stress, erleben immer wieder Rückschläge und verdienen dabei nicht einmal gut. Aber irgendetwas treibt sie an. Solche Menschen kennenzulernen und mit ihnen einen Film zu drehen, ist unglaublich inspirierend. EuroNatur hat ein wunderbares Netzwerk! Dass wir Leute aus diesem Netzwerk kennenlernen durften, war eine riesige Bereicherung. Unsere Filme haben dadurch an Tiefe gewonnen.
Ziegler: Ich denke bei EuroNatur zuerst an das Grenzübergreifende - sich nicht nur um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern, sondern eine europäische Perspektive einzunehmen. Dadurch entsteht ein starkes Gemeinschaftsgefühl, für die Natur in Europa zu kämpfen. Und die Leute bei EuroNatur sind alle sehr nett.
Die Autorin dieses Beitrags, Katharina Grund, empfand das Interview mit den jungen Filmschaffenden von Wild Europe e.V. als sehr inspirierend und freute sich, bei der Premiere des Multivisionsvortrags „Wildes Europa“ in Freiburg live dabei sein zu können.
Multivisionsvortrag auf Tour
Wenn Sie Lust bekommen haben, mehr Eindrücke von und weitere Geschichten über das Wilde Europa zu erfahren, dann besuchen Sie einen der Vorträge vom Wild Europe-Team. In einer bildgewaltigen Multivisions-Show führt das Filmteam die Zuschauerinnen und Zuschauer in so fragile wie schöne Wildnisgebiete Europas. Im Oktober und November 2024 gehen Sarah Ziegler, Simon Straetker und Joshi Nichell in der Schweiz auf Tour.
Weitere Informationen, Termine und Tickets online unter wild-europe.org/vortrag