Forschende wollen mit neuem Selbstverständnis die Balkanflüsse retten! Interview mit dem Gewässerökologen Gabriel Singer
Wissenschaft trifft Engagement: Einsatz für die Balkanflüsse
Sie kommen gerade direkt aus Griechenland von der Science Week am Sarantaporos. Was waren Ihre Eindrücke von der Wissenschaftswoche?
Gabriel Singer: Ich versuche, die Science Week immer mit einem Kurs an der Universität zu verbinden, so auch diesmal mit meinen Masterstudierenden. Die Exkursion bietet für die Studierenden eine tolle Gelegenheit, an einem konkreten Forschungsprozess teilzunehmen und diesen faszinierenden Fluss hautnah zu erleben. Das ist für mich auch das Wesentliche dieser Lehrveranstaltung: Dass man als angehende Ökologin oder zukünftiger Hydrobiologe einen Fluss durch zwei verschiedene Brillen erleben kann. Zum einen als Forscher, der auf eine Landschaft blickt und Tabellen und Diagramme vor sich sieht, aber auch als Abenteurerin, die sich von der Wildheit eines unverbauten Flusses begeistern lässt, Sinneserfahrungen im konkreten Wortsinn macht. Diese Synthese ist uns auf unserer Exkursion wunderbar geglückt: Zuerst erwanderten und befuhren wir die Vjosa und einige Zubringer, dann wurde der Sarantaporos erforscht.
Was macht den Sarantaporos so bedeutsam und warum ist sein Schutz für das Vjosa-Aoos-Flusssystem entscheidend?
Das Vjosa-Aoos-Flusssystem ist einmalig in Europa, diese Fülle an verschiedenen Lebensräumen von so hohem Natürlichkeitsgrad findet man woanders nicht mehr. Bei uns in Mitteleuropa haben wir den Fluss als Ökosystem „befriedet“, ihm damit jedoch die Fähigkeit genommen, eigene Lebensräume zu schaffen, etwa Kiesbänke im Flusslauf oder Steilufer an seinen Rändern. Im Einzugsgebiet der Vjosa und des Aoos ist das noch ganz anders. Insbesondere der Sarantaporos ist abiotisch und mikrobiologisch betrachtet sehr interessant. Er hat einige Thermalquellen, die mikrobiologisch unglaublich spannend sind und führt große Mengen an Sedimenten mit sich, die für das gesamte Flusssystem von großer Bedeutung sind. Ohne die Sedimentmengen des Sarantaporos gäbe es wohl flussab an der Vjosa nicht die für den Nationalpark entscheidenden weitläufigen Schotterlandschaften, in denen sich der Fluss in mehrere Armen verzweigt.
Welche Rolle spielt das für die Biodiversität?
In unserem Hang nach Befriedung und unserem Bedürfnis nach Raum, den wir unseren Flüssen nicht zugestehen, haben wir in Mitteleuropa vorwiegend begradigte Flussläufe. Fast immer reichen Wiesen bis ans Ufer, nicht selten sind die Flächen auch noch bebaut. Das natürliche Hinterland eines Flusses gibt es hier kaum noch. Ganz anders beim Sarantaporos, wo wir wegen der Geröllmengen, die der Fluss mit sich führt, ausgedehnte Schotterbänke vorfinden. Das wirkt auf den ersten Blick nicht unbedingt reizvoll fürs Auge, es erinnert vielmehr an eine Mondlandschaft. Uns Wissenschaftlerinnen und Forscheren brannte da die Sonne auf den Kopf und der trockene Wind wehte uns Staub ins Gesicht. Und doch ist dieser Bereich des Flusses ökologisch wertvoll, denn eine geologische Diversität bildet oftmals auch die Grundlage für eine hohe Biodiversität. Das haben unsere Untersuchungen bestätigt: Ödlandschrecken hüpften uns vor die Linse, seltene Schmetterlingsarten gingen den Entomologen in die Netze und für die Botanikerinnen waren die unterschiedlichen Sukzessionsstadien, also die zeitliche Abfolge von Pflanzengesellschaften in einem bestimmten Lebensraum, ungemein aufschlussreich.
So viel Vielfalt
Tag- und Nachtfalter, Fledermäuse, Fische und Skorpione: Die Artenvielfalt an den Ufern und in den Höhlensystemen des Sarantaporos ist beeindruckend und verdeutlicht den hohen Wert des gesamten Ökosystems. (Tipp: Durch klicken auf die Bilder können Sie größere Ansichten öffnen.)
Weshalb haben Sie sich den Scientists for Balkan Rivers angeschlossen?
Die Wildflüsse auf dem Balkan und ihre ökologische Bedeutung waren mir schon länger bekannt. 2016 lernte ich dann Ulrich Eichelmann [Anm. Red.: Geschäftsführer der EuroNatur- Partnerorganisation Riverwatch] kennen und hörte über Prof. Dr. Fritz Schiemer von der Kampagne zur Rettung der Balkanflüsse sowie dem Ansatz, auch Wissenschaftlerinnen und Forscher in die Bemühungen einzubeziehen. Ich empfand dies sogleich als kreative Form der Kampagnenführung. Meine Motivation, Ökologie zu studieren, wurzelte damals im Umweltaktivismus. Ich musste dann aber feststellen, dass dafür in der akademischen Welt wenig Platz war. Auch Professor Schiemer habe ich als Student nicht als aktivistisch wahrgenommen; ihn nach seiner Pensionierung aber an „vorderster Front“ für den Flussschutz auf dem Balkan zu erleben, hat mir imponiert. Das wollte ich auch – nur will ich damit nicht bis zu meiner Pensionierung warten.
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Gabriel Singer: Alles fließt
Das klingt ein Stück weit nach einem neuen Selbstverständnis von Wissenschaft. Werden Forscherinnen und Forscher zunehmend zu Menschen, die versuchen, die Welt zu retten?
Wissenschaft erfährt Evolution. Noch vor 20, 30 Jahren ging es fast ausschließlich ums Publizieren und das ist natürlich immer noch unsere Basis. Aber wenn diese Forschung und die Veröffentlichungen, die damit zusammenhängen, nicht dazu führen, dass wir mit der Welt besser umgehen, dass wir unsere Lebensgrundlagen sichern, dann frage ich mich als Wissenschaftler: Wozu das Ganze? Ich kann unendlich viel forschen, aber nicht erkennen, dass meine Daten irgendeinen Einfluss haben; sie erreichen weder die Öffentlichkeit noch die Politik. Ich habe das Gefühl, dass da gerade ein Umdenken stattfindet. Bei den Klimatologen sieht man es am deutlichsten, die gehen auch mal auf die Straße. Auch bei den Ökologen findet dieses Umdenken mit etwas Verspätung nun statt. Wir als Wissenschaftler müssen mehr Verantwortung übernehmen und sollten uns weniger um den möglichen Verlust unserer Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit sorgen, wenn wir mal unsere Meinung äußern oder im gesellschaftlichen Diskurs Partei ergreifen. Ich denke, es gehört zu meiner akademischen Verantwortung, das vorhandene Wissen um die Biodiversitätskrise nutzbar zu machen.
Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Scientists for Balkan Rivers?
Als ich zum ersten Mal von der Initiative gehört habe, dachte ich mir: Genau das ist die Antwort auf die unzähligen geplanten Wasserkraftwerke und Staudämme entlang der Balkanflüsse. Man schafft ein Netzwerk aus Aktivistinnen und Wissenschaftlern. Letztere erheben die Daten, publizieren sie wissenschaftlich und gleichzeitig sorgen die NGOs hinter der Kampagne dafür, dass diese Daten nicht nur in einem Fachjournal verschwinden, sondern ihren Weg in die breite Öffentlichkeit finden und so die nötige Aufmerksamkeit erfahren. Zudem ist es für die Studierenden, die ja den Großteil der Forschenden bei den Science Weeks stellen, eine großartige Erfahrung. Ihnen wird das Gefühl vermittelt, dass sie mit ihrer Forschung wirklich etwas bewirken können und nicht nur einen weiteren Bericht für die Schublade verfassen. Noch ein Punkt dazu: So eine Science Week besitzt auch ein soziales Momentum durch die Einbettung in die Gemeinschaft, gerade auch mit den Menschen vor Ort. Da kommen viele ganz unterschiedliche Menschen zusammen und sie brennen für die gemeinsame Sache, nämlichen diesen Fluss zu schützen.
Wissenschaftler und Forscherinnen im Einsatz
Wie sehen Sie die Chancen, unseren Planten im Allgemeinen und das Blaue Herz Europas im Besonderen zu retten?
Ich sage meinen Studierenden zu Beginn ihres Studiums ganz gerne, dass sie sich rüsten mögen. „Ihr werdet jetzt fünf Jahre lang etwas über die Zerstörung der Welt hören und ihr müsst Wege finden, damit umzugehen und motiviert bei der Sache zu bleiben.“ Das kann etwa über die Befriedigung inhärenter Neugier gehen, wenn man zum Beispiel an einem faszinierenden Tier forscht. Das kann aber auch gelingen, indem man einen Wildfluss mit dem Kajak ganz bewusst ‘erfährt‘. Wenn man die Beschäftigung mit unserer ökologischen Krise langfristig durchhalten will, muss man eine Portion Optimismus mitbringen. Ich kenne einige Kollegen, die in eine leicht depressive Stimmung verfallen, die sagen, wir dokumentieren nur noch den Untergang. So eine Haltung verbiete ich mir persönlich.
Nicht gegen die ökologische Krise, gegen Lebensraumverlust oder Artensterben anzukämpfen, wenn man doch so genau darüber Bescheid weiß, das ist vermutlich das Demotivierendste, was man machen kann.
Wir werden mit Sicherheit viel verlieren, zum Beispiel an der Neretva in Bosnien-Herzegowina. Dort haben wir 2022 und 2023 Wissenschaftswochen durchgeführt, die extrem fruchtbar waren. Aber ich befürchte, wir sind zumindest zur Verhinderung eines großen Wasserkraftprojekts zu spät gekommen; der Ulog-Staudamm wird wohl fertiggestellt. Dort bräuchte es nun eine andere Form des Protestes, etwa eine Baustellenbesetzung. Doch dafür fehlt die kritische Masse an Aktivistinnen und Widerständlern. Der ökologische Reichtum der Neretva wird also ein Stück weit verloren gehen, aber das eine oder andere Flusssystem auf dem Balkan werden wir in seiner ökologischen Unversehrtheit erhalten können, davon bin ich überzeugt. Am Sarantaporos haben wir wichtige Grundlagen hierfür geschaffen.
Text und Interview: Christian Stielow
Das Interview fand im Nachgang der Sarantaporos-Wissenschaftswoche statt, die vom Mediterranen Institut for Nature and Anthropos (MedINA) im Juni 2024 koordiniert wurde.