Niemand ist eine Insel

Was vor dem Klick geschah...Fotografinnen und Bildermacher erzählen die Geschichte hinter einer besonderen Aufnahme. Diesmal: ein kleiner Watvogel auf einer abgelegenen Nordseeinsel und der Krieg in der Ukraine.

Ende August 2022 am Strand von Trischen, wo ich seit März als Vogelwart stationiert bin: Die Hitze wabert über blendend weißem Boden. Auf dem Boden trippelt, flirrt und schwirrt es. Hunderte Sandregenpfeifer und Alpenstrandläufer stehen kaum fünf Meter von mir entfernt und tschirpen, tschilpen, plustern und putzen sich wie in einem großangelegten Wimmelbild. Einer streckt entspannt sein schwarzes Beinchen nach hinten. Ein anderer versucht, seinen Fuß von einer Muschel zu befreien, die sich um seinen Zeh gekniffen hat. Ich bin so nahe dran, dass ich sogar einen winzigen Tropfen Blut auf der weißen Muschelschale erkennen kann.

In den letzten Monaten auf der winzigen Nordseeinsel habe ich gelernt, mich mit viel Zeit und sehr viel Ruhe den Vogelschwärmen so zu nähern, dass ich bisweilen fast mittendrin stehe: Unberechenbare Bewegungen mögen sie gar nicht. Stetige Bewegungen sind okay – am liebsten aber natürlich gar keine. Und am liebsten ist es auch mir, wenn sie auf mich zukommen. Dann weiß ich, dass ich wirklich nicht störe.

Beringter Alpenstrandläufer auf Trischen

Beringte Vögel erzählen Geschichten...

© Till Holsten
Europakarte mit Trischen und Mykolajiw

Einmal quer über den Kontinent: Zugvögel wie der Alpenstrandläufer legen gewaltige Distanzen zurück, sie kennen keine Ländergrenzen.

Und manchmal fängt dann, wie zur Belohnung für’s lange Stillhalten, auch mein Herz plötzlich wie wild an zu pochen: Ein Ringträger! Unendlich langsam arbeite ich mich durch den Schwarm vor, bis ich ein Bild machen kann, das mir Sicherheit gibt. Und einige Stunden später habe ich Gewissheit: Der Vogel stammt aus einem Beringungsprogramm aus der Ukraine. Plötzlich hängen am steichholzdünnen Bein des kleinen Vogels ganz schön viele Fragen.

Ich habe natürlich versucht, etwas über den Vogel herauszufinden. Es ist gelungen. Dies hier ist die Antwort seines Beringers: „Hello. That is my bird. However, I am at war and have no access to the database.“

Und so ziehe ich den Hut vor jemandem, der in Gott weiß was für einer Situation seine Mails checkt und versucht, ein Vogelberingungsprogramm zu managen. Die Beringungszentrale in Kiew – die tatsächlich arbeitet! – konnte mir schließlich mitteilen, dass der Vogel 2020 nahe Mykolajiw beringt worden ist, einer Stadt, die heute gezeichnet ist vom Krieg. Seitdem war der Vogel nicht wieder beobachtet worden.

Zunächst hatte ich mich noch gefragt, ob es womöglich vermessen wäre, sich überhaupt mit so einer Angelegenheit zu melden. Aber dann dachte ich mir, dass auch diese Arbeit weitergehen soll. Ich hoffe sehr, dass der Beringer des Vogels sich freut, wenn er, hoffentlich heil an Leib und Leben, zurückkehrt und sieht, dass seinem Werk ein winziges Stück hinzugefügt wurde. Ich wünsche mir von Herzen, dass der Alpenstrandläufer ein gutes Omen war.

Selbst eine einsame Insel ist kein Ort, an dem man die Welt einfach vergessen kann. Die riesige Bohrinsel vor meiner Haustür, die gigantomanischen Containerschiffer in der Elbe und der Plastikmüll am Strand führen mir das jeden Tag vor Augen. Aber noch nie war es mir so deutlich, wie an jenem Abend, als ich eine Nachricht von einem Ornithologen bekam, der keine Vögel mehr beringt, sondern mit einem Gewehr um sein Leben kämpft.

Vogelwart Trischen
© Christian Stielow

Dr. Till Holsten war von März bis Oktober 2022 Vogelwart auf der kleinen Nordseeinsel Trischen, die vom NABU Schleswig-Holstein betreut wird. Holsten war als Kinderarzt mehrere Jahre an einer großen Universitätsklinik tätig und arbeitet seit 2022 beim NABU Schleswig-Holstein.

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